Die meisten sterben, bevor sie ganz geboren sind
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Die Geburt ist nicht ein augenblickliches Ereignis, sondern ein dauernder Vorgang. Das Ziel des Lebens ist es, ganz geboren zu werden, und seine Tragödie, daß die meisten von uns sterben, bevor sie ganz geboren sind. Zu leben bedeutet, jede Minute geboren zu werden. Der Tod tritt ein, wenn die Geburt aufhört.
– Erich Fromm
Dieses Zitat des Psychoanalytikers und Sozialphilosophen Erich Fromm drückt eine tiefgründige Sicht auf Leben und Tod aus. Es beschreibt das Konzept der Geburt als einen fortlaufenden Prozeß, der nicht mit dem biologischen Akt der Geburt endet, sondern sich durch das ganze Leben zieht. Das „Ganz-geboren-Werden“ beschreibt Fromm als das eigentliche Ziel des Lebens, nämlich die volle Verwirklichung des eigenen Potentials und die bewußte Gestaltung der eigenen Existenz.
Die Tragik besteht darin, daß viele Menschen sterben, bevor sie dieses Ziel erreicht haben, das heißt, bevor sie ihr volles Bewußtsein und ihre Möglichkeiten im Leben ausgeschöpft haben. Der Tod, wie Fromm ihn sieht, tritt ein, wenn dieser Prozeß des ständigen Wachsens, des ständigen Geborenwerdens aufhört. Dahintersteht der alte Gedanke, daß wahres Leben bedeutet, sich ständig weiterzuentwickeln, Neues zu erfahren und sich selbst immer wieder neu zu entdecken.
Fromms Zitat aus seinem Buch Zen-Buddhismus und Psychoanalyse regt also dazu an, das Leben nicht als etwas Statisches oder Abgeschlossenes zu betrachten, sondern als ständige Chance zur Veränderung und zum Wachstum.
Dises Zitat erinnert uns instinktiv an die Lehren Jesu, der nicht zufällig tief im hebräischen Humanismus verwurzelt ist. Seine Botschaft drehte sich um die ständige Erneuerung des Menschen – nicht durch ein einmaliges Wunder, sondern durch fortwährende Wandlung und Selbstverbesserung. Nur ist bei Jesus als Korrektiv Gott* eingebaut. Aus dieser Sicht besteht das wahre Leben in der Erneuerung der Vernunft und des Willens, in der beständigen Entscheidung für das Gute und im Streben nach einem tieferen Bewußtsein, Menschlichkeit und Gewaltfreiheit. Die Lehre Jesu betont, daß die Entwicklung des Menschen kein statischer Prozeß ist, sondern eine immerwährende Aufgabe, die jeder Mensch aktiv auf sich nehmen muß.