Die Wahrheit auf der Erde; es gibt nur eine Wahrheit

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Wahrheit

Rabbinische Weisheit

Rabbinerin Debora war gerade auf dem Weg zum Einkaufen, als sie eine Gruppe Jugendlicher bemerkte, die sich lebhaft unterhielten. Sie kannte die Jungs und Mädels gut. Es waren jüdische und christliche Jugendliche, die oft zusammen abhingen und Spaß hatten. Mit einem warmen Lächeln ging sie zu ihnen und begrüßte sie freundlich.

„Was gibt’s denn so Wichtiges zu besprechen?“, wollte Rabbinerin Debora wissen. „Sonst geht ihr doch immer gerne Schabernack nach ;-))“

„Ach, nur über Wahrheit“, antwortete einer der Jugendlichen mit einem Schulterzucken.

„Die Wahrheit, ja?“ sagte sie und setzte sich auf eine nahegelegene Bank. „Das kommt mir vor wie eine alte rabbinische Geschichte, die vielleicht weiterhilft.“

Die Jugendlichen rückten näher, gespannt, was die Rabbinerin ihnen wohl zu erzählen hat.

„In den frühen Tagen der Schöpfung hat HaSchem beschlossen, die Welt zu erschaffen, und jeder Teil der Schöpfung fand seinen Platz.“ Die Engel waren sehr neugierig und fragten: „Was kommt als Nächstes, Herr?“ HaSchem sagte: „Herr, die Menschen sind schwach und fehlbar.“ „Die Wahrheit werden sie nicht ertragen können.“

„Die Engel waren ganz schön geschockt“, fuhr Rabbinerin Debora fort. Die Engel wussten, dass die Wahrheit ziemlich kraftvoll und rein war. Sie konnten sich einfach nicht vorstellen, wie die unvollkommene Welt mit ihr umgehen würde. Sie flehten HaSchem an: „Herr, die Menschen sind schwach und fehlbar.“ „Sie werden die Wahrheit nicht ertragen können.“

„HaSchem dachte einen Moment nach und dann gesagt: ‚Ihr habt recht. Die volle Wahrheit wäre für die Menschen zu schwer zu tragen. Aber sie sollen dennoch einen Teil davon haben‘. Und so nahm HaSchem die Wahrheit und warf sie zur Erde. Doch statt in einem einzigen Stück anzukommen, zerschellte die Wahrheit in unzählige kleine Teile und verstreute sich über die ganze Welt.“

„Stellt euch das bildlich vor“ sagte sie und lächelte, „ein großer, leuchtender Ball der Wahrheit, der durch die Lüfte fliegt und schließlich mit einem gewaltigen Knall auf der Erde zerschellt.“ Die Wahrheit ist in tausend Stücke zerbrochen und hat sich über die ganze Welt verteilt. Das klingt fast wie das Ende eines Comics, oder?“

Die Jugendlichen mussten lachen.

„Aber das war erst der Anfang“, fuhr Rabbinerin Debora fort. „Denn nun kam die spannende Aufgabe für die Menschheit: diese verstreuten Stücke der Wahrheit zu finden und sie zusammenzusetzen. Das Problem ist nämlich, dass es kein fertiges Muster gibt und jeder seine eigenen Teile findet und anordnet.

„Stellt euch vor, wie unterschiedlich die Menschen auf der Suche nach diesen Stücken der Wahrheit waren“, sagte sie. „Da gab es die Gelehrten, die jedes noch so kleine Stück untersuchten und darüber diskutierten, welche Bedeutung es haben könnte. Dann gab es noch die Pragmatiker, die sich einfach die größten Stücke geschnappt und versucht haben, etwas Nützliches daraus zu machen. Und natürlich gab es auch die Träumer:innen, die versucht haben, die schönsten Stücke zu einem funkelnden Mosaik zusammenzusetzen.

„Das Schöne an dieser Geschichte ist, dass sie uns zeigt, dass die Wahrheit nicht immer einfach und einheitlich ist“, sagte Rabbinerin Debora. „Sie ist komplex und vielfältig und jeder von uns hat einen einzigartigen Beitrag zu ihrem Verständnis zu leisten.“ Bestimmt ist euch schon mal aufgefallen, dass ihr und eure Kolleginnen und Kollegen oft verschiedene Ansichten über dieselben Dinge habt. „Genau darum geht’s in dieser Geschichte!

Debora stand auf und sagte: „So, ich muss jetzt los, einkaufen gehen. Sehen wir uns nächste Woche zur Besprechung der Aktion für Abrüstung? Ich habe das von Leo Baeck über Feindesliebe zusammengefaßt ausgedruckt, das Christine neulich erwähnt hat, und bringe es mit.“

„Klar“, antworteten die Jugendlichen sich darauf freuend im Chor.

Midrasch-Erzählung