Eine alte neue Sicht

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Ein paar Gedanken

Friedenstaube

Aussagen über Gottes Zorn und Strafe in der Bibel bedeuten eigentlich, dass Gott nicht bestraft, sondern dass die Menschen die Folgen ihrer falschen Entscheidungen selbst tragen müssen.

Die so genannte „Sühnetheorie“, die von manchen Traditionen betont und auch von der säkularen Welt wahrgenommen wird, besagt, dass Jesus für unsere Sünden gestorben ist, um Gottes Zorn zu besänftigen und uns Vergebung zu ermöglichen. Doch die zentrale Frage lautet: Musste Jesus wirklich sterben, um Gott zu überzeugen, dass er die Menschen liebt?

Die Antwort ist eindeutig: Nein. Gott hat uns schon immer geliebt. Jesus kam nicht, um Gottes Meinung über die Menschheit zu ändern, sondern um die Meinung der Menschheit über Gott zu ändern. Diese Sichtweise verändert grundlegend wie wir das Kreuz verstehen.

Um zu verstehen, was das Kreuz und das gewaltlose Handeln Jesu uns lehren, ist es notwendig, das Kreuz und das Handeln Jesu – in dem sich uns der Charakter Gottes offenbart –, getrennt voneinander zu betrachten. Dabei darf aber der Zusammenhang der Erzählung zwischen beiden nicht aus den Augen verloren werden.

Was lehrt uns das Kreuz und was lehrt uns das Handeln Jesu?

Die Bedeutung des Kreuzes – diesem Gewaltverbrechen – liegt darin, dass es uns vor Augen führt, zu welcher Gewalt und zu welchem Leid der Mensch fähig ist – im Kleinen wie im Großen. Das Kreuz ist ein Symbol für falsch verstandene staatliche Macht und für menschliches Handeln, das die Würde des Menschen verletzt.

Dagegen steht das Handeln Jesu, das Gewalt durch Gewaltfreiheit überwindet. Selbst seine Mörder:innen behandelt er in Würde, zeigt ihnen den Weg zur Umkehr und reicht ihnen die Hand. Er verzichtet auf Vergeltung, zeigt Liebe statt Hass und durchbricht die Spirale der Gewalt. Er ruft uns auf, unseren Schmerz und unsere Feinde nicht zu bekämpfen, sondern sie mit Liebe zu umarmen. Das bedeutet, sich nicht vom Hass beherrschen zu lassen, sondern diesen Kreislauf zu durchbrechen, indem wir uns für Barmherzigkeit und Vergebung entscheiden – und gleichzeitig Ungerechtigkeit nicht hinnehmen, sondern beim Namen nennen und ihr gewaltfrei entgegentreten.

Das Leben Jesu, in dessen Handeln sich der Charakter Gottes offenbart, lehrt uns, dass das Heil im gewaltlosen Widerstand gegen das Böse liegt – und dass wir nur durch das Gottesverständnis Jesu erkennen können, was das Böse ist.  
In der Beziehung Jesu zu Gott sind wir Menschen eingeladen, zu erkennen, wie wir sie leben können, sollen. In die Fußstapfen Jesu zu treten, ihm nachzufolgen, indem wir so leben und glauben, wie Jesus geglaubt hat. Das bedeutet nicht, so zu leben wie vor 2000 Jahren, sondern im Hier und Jetzt, mit allen Errungenschaften wie zum Beispiel definierten Grund– und Menschenrechten. Es zeigt uns, dass wir, um Gewaltspiralen zu durchbrechen, möglicherweise Leid auf uns nehmen müssen wie Jesus. Doch solches Leiden ist nicht das, was Gott will; es soll vielmehr dazu führen, von Menschen verursachtes oder beabsichtigtes Leid durch die Menschheit gewaltfrei für alle zu überwinden.

Jean-Marie Valdes