Die Trennung Jesu von seinem jüdischen Erbe und die Entstehung christlicher Nationalismen
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Ein theologischer Essay
I. Die Trennung Jesu von seinem jüdischen Kontext
Die Wurzeln einer theologisch begründeten Ungleichheit reichen tief in die Dogmenbildung der Alten Kirche. Erst mit der sogenannten konstantinischen Wende im 4. Jahrhundert – der engen Verbindung zwischen Kirche und römischer Staatsmacht – formierte sich das, was heute als Christentum gilt¹. Aus der zuvor verfolgten Gemeinschaft der Jesus-Nachfolger:innen wurde eine staatsnahe, machtaffine Institution².
In diesem Kontext wurde der erzählende Zugang zum Christusgeschehen, wie ihn das Neue Testament bietet, zunehmend von abstrakten theologischen Formeln verdrängt. Die Konzilien von Nizäa (325), Konstantinopel (381) und Chalcedon (451) legten nicht nur fest, dass Jesus „wahrer Gott und wahrer Mensch“ sei, sondern formulierten auch die Lehre von der Dreieinigkeit Gottes in festen dogmatischen Begriffen³. Diese Formeln entfernten Jesus zunehmend von seinem jüdischen Ursprung und seiner Einbindung in die Geschichte Israels.
Was dabei verloren ging, war die erzählerische und politische Dimension des Evangeliums: Jesus als Teil des Volkes Israel, als Fortführer des Bundes mit Abraham, als prophetische Gestalt, die soziale Gerechtigkeit einforderte und die Machtverhältnisse seiner Zeit infrage stellte⁴. Die dogmatische Abstraktion verdrängte diese gelebte Praxis – und öffnete den Weg für eine Theologie, die Jesus zur Herrscherfigur stilisierte und ihn imperial vereinnahmbar machte⁵. Damit wurde er entgeschichtlich und entpolitisiert – verfügbar für die Interessen von Macht, Herrschaft und Expansion⁵.
II. Weißes Christentum und die Konstruktion von Überlegenheit
Die Abkopplung von der Geschichte Israels ermöglichte die Konstruktion eines europäisch geprägten Bildes des „idealen Menschen“ – weiß, männlich, christlich. Jesus wurde, in metaphorischer Hinsicht, „weiß gemacht“ – er wurde entrückt aus dem jüdischen Kontext, entpolitisiert und entgeschichtlich⁶. In dieser Form konnte er zum Bannerträger eines kolonialen Christentums werden, das seinen universalen Wahrheitsanspruch mit der Expansion europäischer Macht verband.
III. Die „Entdeckungsdoktrin“ – Theologische Legitimierung kolonialer Gewalt
Die sogenannte "Entdeckungsdoktrin" (engl. Doctrine of Discovery) bezeichnet ein ideologisches und theologisches Konstrukt, das im 15. Jahrhundert durch päpstliche Bullen wie Dum Diversas (1452), Romanus Pontifex (1455) und Inter Caetera (1493) etabliert wurde⁷. Diese Dokumente verliehen christlichen europäischen Mächten das vermeintliche Recht, Länder zu "entdecken", zu erobern und deren nicht-christliche Bevölkerung zu unterwerfen oder zu versklaven.
Diese Doktrin legte den Grundstein für eine jahrhundertelange koloniale Expansion, die sich nicht nur auf Nord- und Südamerika, sondern auch auf Afrika, Asien und Ozeanien⁸ erstreckte. Dieses Denken manifestiert sich bis heute in politischen Strukturen, beispielsweise in der Externalität europäischer Außengrenzen oder der systemischen Ausbeutung postkolonialer Ökonomien⁹. Die Tatsache, dass zahlreiche Kirchen zu dieser strukturellen Gewalt schweigen, ist Ausdruck theologischer Komplizenschaft¹⁰.
IV. Das europäische Schweigen: Gaza, Russland, Migration
In dieser Traditionslinie steht auch das heutige Schweigen vieler europäischer Kirchen gegenüber aktueller Gewalt, drei Fallbeispiele:
Gaza. Seit dem Angriff Israels auf den Gazastreifen im Oktober 2023 sind Zehntausende, darunter zahlreiche Kinder, ums Leben gekommen. Internationale Stimmen verwenden den Begriff des Völkermords¹¹, um die Geschehnisse zu beschreiben. Die offiziellen Reaktionen der Kirchen in Europa zeigen sich indes zurückhaltend oder ausweichend.
Russische Föderation. Der Ukrainekrieg brachte eine Welle antirussischer Ressentiments, die sich nicht nur politisch, sondern auch rassistisch äußerten. Russischsprachige Menschen werden pauschal verdächtigt, diffamiert, ausgeschlossen. Doch Kirchen schweigen – aus Angst vor Missverständnissen oder Opportunismus¹².
Migration. Die europaweite Rhetorik der „Grenzsicherung“ geht mit der Entmenschlichung Geflüchteter einher. Die Bibel ruft zur Aufnahme des Fremden auf (Lev 19,33–34; Mt 25,35). Dennoch versagen viele Kirchen, wenn es darum geht, den politischen Diskurs mit prophetischer Klarheit zu konfrontieren¹³.
V. Eine narrative Theologie des Widerstands
Die frühe Kirche identifizierte Jesus nicht durch abstrakte Begriffe, sondern durch sein Leben. Er wurde in einem jüdischen Kontext geboren, heilte, stellte soziale Ordnungen infrage, wurde vom römischen Staat hingerichtet und von Gott auferweckt¹⁴. Diese Erzählung ist nicht nur theologisch, sondern auch politisch zu verstehen. Sie positioniert sich dezidiert gegen Gewalt, Unterdrückung, Ausschluss und Ideologie.
Diese Erzählweise steht nahe an der von J. Denny Weaver entwickelten gewaltfreien Christus-Victor-Theorie¹⁵. Erlösung ist nicht als Versöhnung durch Satisfaktion interpretiert, sondern als Sieg über die Mächte – durch Gottes Treue zum gewaltfreien Weg Jesu. In dieser Sichtweise ist nicht das Kreuz als Akt göttlicher Gewalt heilbringend, sondern die Auferweckung des durch imperiale Gewalt getöteten Jesus als Bestätigung seines gewaltfreien Weges.
Eine Theologie, die sich dieser Erzählung verpflichtet weiß, hat die Aufgabe, struktureller Gewalt zu widersprechen – sei es in Gaza, an den EU-Außengrenzen, gegenüber Geflüchteten, gegenüber Rassismus gegen Russ:innen, gegenüber Antisemitismus und Islamfeindlichkeit, gegenüber staatlicher Überwachung. Sie kann sich nicht auf Formeln wie „wahrer Gott und wahrer Mensch“ verlassen, wenn diese nicht mit gelebtem Widerstand verbunden sind.
VI. Schluss: Die Erzählung Jesu als Quelle theologischen Gewissens
Was bleibt, ist ein Ruf: zu einer Theologie, die erzählt statt zu verbergen, zu einer Kirche, die prophetisch spricht statt politisch taktiert. Eine Kirche, die sich von Jesus nicht nur inspirieren, sondern unterbrechen lässt. Eine Kirche, die erkennt, was zum Frieden dient – und spricht, wo andere schweigen.
Endnoten
- Ernst Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Tübingen 1912, S. 119–128.
- John H. Yoder, Die Politik Jesu, 2. Aufl., Neukirchen-Vluyn 1998, S. 81–94.
- Adolf von Harnack, Lehrbuch der Dogmengeschichte, Bd. 1, Tübingen 1894, S. 266–274.
- Willie J. Jennings, The Christian Imagination: Theology and the Origins of Race, New Haven 2010, S. 32–38.
- Jürgen Moltmann, Der Weg Jesu Christi, München 1989, S. 47–55.
- Mitri Raheb, Faith in the Face of Empire, Maryknoll 2014, S. 41.
- Carl Mirbt (Hg.), Quellen zur Geschichte des Papsttums, 5. Aufl., Tübingen 1953.
- Robert J. Miller et al., Discovering Indigenous Lands, Oxford 2010.
- Jean Ziegler, Der Hass auf den Westen, München 2009, S. 58–65.
- Fernando Enns, Friedenskirche in der Ökumene, Gütersloh 2011, S. 112–118.
- Amnesty International, HRW und UNOCHA, Berichte zu Gaza 2023.
- Regina Ammicht Quinn, „Sicherheit um jeden Preis?“, in: Ethik in der Gegenwart, Bd. 7 (2022), S. 89–101.
- Dorothee Sölle, Politische Theologie, Stuttgart 1994, S. 45–47.
- Apostelgeschichte 2,22–36; 10,38–43.
- J. Denny Weaver, The Nonviolent Atonement, 2nd ed., Grand Rapids 2011, Kap. 4–6.
K. Landes, Frühjahr 2025