Frauenmarsch für den Frieden; Women’s March for Peace. Kurdische ...
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Wie ein Frauenmarsch den Ruf nach Frieden laut machte – in einer Zeit der Spaltung und Gewalt. Nachstehend ein ins Deutsche übersetzter Artikel von Andy Paine, der am 24. Juni 2025 in englischer Sprache auf der Netzseite von Community Peacemaker Teams (CPT) veröffentlicht wurde. Er erzählt, wie kurdische Frauen mit einem 200 Kilometer langen Marsch gewaltfrei für den Frieden kämpften. Im kurdischen Bürgerkrieg der 1990er-Jahre wagten über 40 Frauen ein Protest: Unbewaffnet und entschlossen zogen sie von Sulaimani nach Erbil – durch Kriegsgebiet, getragen von der Hoffnung auf Versöhnung. Ihre Geschichte ist fast vergessen, ihr Mut unvergessen.

Women’s March for Peace
After a visit to the house of Ashti Khan, the CPT Iraqi Kurdistan team hears the story of how a women's march interrupted a bloody civil war.
Bei einem Besuch im Haus von Ashti Khan hört das CPT-Team im irakischen Kurdistan, wie ein Frauenmarsch einen blutigen Bürgerkrieg beendet hat.
Bei unserer Ankunft am Haus von Ashti Khan werden wir herzlich im kurdischen Stil empfangen – mit liebevollen Begrüßungen, einem Platz im Wohnzimmer sowie Tee, Wasser und Obst. Nachdem das Begrüßungsritual beendet ist, kommen wir zum eigentlichen Grund unseres Besuchs: Wir möchten einige außergewöhnliche Geschichten aus Ashti Khans Leben hören.
Als Ashti eine junge Frau war, kaum aus dem Teenageralter heraus, wurde sie vom Baath-Regime Saddam Husseins verhaftet. Die Anklage lautete auf Mitgliedschaft in einer kurdischen Unabhängigkeitsorganisation. Das Urteil: 15 Jahre Haft im Abu-Ghraib-Gefängnis in Bagdad. Unter den 45 anderen Gefangenen – allesamt arabische Frauen schiitischen Glaubens, die sich ebenfalls gegen Saddams Regierung gestellt hatten – war sie die einzige Kurdin. Diese ethnische Isolation war eine gezielte Strategie, um ihren Willen zu brechen. Ohne Erfolg.
„Unser Glaube an die Freiheit hat uns stark gehalten. Ich hatte viel Selbstvertrauen – das war die einzige Möglichkeit zu überleben.“
Sie passte sich dem Gefängnisalltag an, indem sie Freundschaften mit den anderen Gefangenen schloss:
„Ich war Kurdin, sie waren Araberinnen. Ich war Sunnitin, sie waren Schiitinnen. Ich war Kommunistin, sie waren Musliminnen. Ich musste mich anpassen. Wenn wir 15 Jahre überleben wollten, mussten wir miteinander auskommen.“
Nach drei Jahren kam es draußen zu einem kurdischen Aufstand, der zu einem Gefangenenaustausch führte. Sie kehrte in ein Kurdistan zurück, das inzwischen eine gewisse Autonomie erlangt hatte, und begann eine Ausbildung zur Lehrerin.
Es ist eine eindrucksvolle Geschichte – sie zeigt sowohl Ashtis innere Stärke als auch ein Stück kurdischer Zeitgeschichte. Doch wir sind auch gekommen, um sie zu einem Ereignis zu befragen, das sich einige Jahre später ereignete: Die beiden Hauptfraktionen der kurdischen Unabhängigkeitsbewegung führten gegeneinander einen blutigen Bürgerkrieg.
Über 5.000 Menschen starben in diesem Krieg, darunter auch Ashtis Bruder. Im Mai 1994, nachdem in den ersten Monaten bereits Hunderte Menschen ums Leben gekommen waren, beschloss eine Gruppe von Frauen, dass es Zeit war, drastische Maßnahmen für den Frieden zu ergreifen.
Die Idee zu dem Marsch stammte von Ashtis Tante, Jamila Khan – „eine großartige Intellektuelle und Pädagogin“. Sie rief alle Frauen, die an Frieden und Freiheit glaubten, auf, sich ihr anzuschließen. Während des Widerstands gegen Saddam Hussein hatten Frauen die Guerilla in den Bergen unterstützt. Doch nun, da sich der Krieg nach innen gegen die eigenen Kurden gewandt hatte, sahen sie die Zeit gekommen, einzugreifen. Ihr politisches Vorbild war die selbstlose Liebe einer Mutter: An die Front zu gehen, nicht um zu töten, sondern das eigene Leben für das anderer zu riskieren.
Sie organisierten einen Frauenmarsch, der vom Stützpunkt einer der Kriegsparteien in Sulaimani fast 200 km bis zum Stützpunkt der gegnerischen Truppen in Erbil führte. Das Ziel war es, eine Botschaft an das kurdische Volk und die internationale Gemeinschaft zu senden:
„Wir wollen Frieden.“
Jamila kam zum Haus der Familie, um über den Marsch zu sprechen. Sie sagte offen, dass sie verhaftet oder getötet werden könnten, daher sollten nur diejenigen mitmachen, die bereit seien, sich dieser Realität zu stellen. Das Gleiche wurde auch den anderen Frauen gesagt. Der Marsch würde lang und beschwerlich sein, sie würden im Freien übernachten, wenig zu essen mitnehmen. Wer gesundheitlich angeschlagen war oder an sich zweifelte, sollte nicht teilnehmen.
Im Haus von Ashti gab es gemischte Gefühle. Ashti selbst wollte mitgehen, bekam aber keine Freistellung von der Arbeit. Ihre Mutter war entschlossen, sich anzuschließen. Ihr Bruder unterstützte die Aktion – er hatte selbst einen Bruder im Krieg verloren. Ihr Vater jedoch, traumatisiert vom Krieg, wollte niemanden aus der Familie in Gefahr bringen. Aber er konnte seine Frau nicht aufhalten.
Die Frauen versammelten sich im öffentlichen Garten nahe des Sulaimani-Basars. Es waren 40 bis 50 Frauen, alle über 45 Jahre alt. Ashti kam zur Verabschiedung, traurig, dass sie nicht mitgehen konnte. Viele Menschen hatten sich versammelt, um sie emotional zu verabschieden. Die Frauen sagten, sie würden entlang der Straße gehen, weiße Fahnen für den Frieden tragen, und wenn man sie aufzuhalten versuche, würden sie dennoch nicht umkehren.
„Es gab viele Herausforderungen“, sagt Ashti – eine klare Untertreibung. Es war Frühsommer, die Temperaturen stiegen über 40 Grad. Die Mütter und Großmütter trugen traditionelle kurdische Kleidung und einfache Schuhe oder Sandalen. Sie hatten nur etwas Brot und selbstgebackene Kleinigkeiten dabei – von denen sie jeden Tag nur wenig aßen.
Fast zwei Wochen lang gingen sie, hungrig und durstig, hielten abends an, um sich gegenseitig die schmerzenden Füße zu massieren. Zwei Frauen wurden schwer krank mit Magen-Darm-Symptomen. Eine dritte Frau begleitete sie zurück nach Hause – so waren drei weniger auf dem weiteren Weg.
Als die Frauen Erbil erreichten, wurden sie von Sicherheitskräften und Mitgliedern der oppositionellen PDK-Partei empfangen. Die Männer beschimpften sie. Jamila Khan trat vor, um mit den Soldaten zu sprechen. Sie misshandelten und schlugen sie.
In diesem Moment glaubten die Frauen, sie würden nicht lebend zurückkehren. Die Soldaten blockierten ihren Weg. Doch die Frauen gingen weiter und betonten, dass es sich um einen gewaltfreien Marsch handele und sie nicht aufgeben würden, bis sie das Parlament erreichten.
Die Soldaten zögerten – kulturell waren sie erzogen, einer Mutter nichts anzutun. Nach einer angespannten Pattsituation löste sich die Blockade. Die Frauen marschierten weiter in Richtung Parlament.
Das Parlament war bewusst gewählt worden – nicht das Hauptquartier einer Partei, sondern ein Symbol für Demokratie und kurdische Einheit. Ein neutraler Ort, an dem man sowohl den Söhnen und Ehemännern der PUK als auch denen der Gegenseite eine Botschaft überbringen konnte.
Als sie ankamen, feuerte die Sicherheitskräfte eine Salve Warnschüsse über ihre Köpfe. Wieder dachten die Frauen, sie würden erschossen. Doch sie fassten sich an den Händen und gingen weiter – direkt hinein ins Parlament, wo sie ihre Friedensbotschaft überbrachten.
Was sie in diesem Moment empfanden, lässt sich schwer nachempfinden. Zwei Wochen Fußmarsch, Jahrzehnte der Unterdrückung und des Kriegs. Sie hatten alles für den Frieden riskiert, in der verzweifelten Hoffnung, dass ihre Nation es ihnen gleichtun würde. Mit dem Erreichen ihres Ziels bewiesen sie, dass selbst die unwahrscheinlichsten Ziele erreicht werden können, wenn man fest daran glaubt. Vielleicht war sogar Frieden in Kurdistan möglich.
Nach einigen Tagen in Erbil kehrten die Frauen mit dem Auto nach Sulaimani zurück. Die Dörfer entlang der Straße, deren Bewohner zunächst unsicher gewesen waren, wie sie den Marsch einordnen sollten, empfingen sie nun mit Respekt und winkten ihnen zu – sie hatten von ihrem Mut gehört.
Kurz nach dem Marsch wurde ein vorläufiger Waffenstillstand vereinbart. Doch der Frieden währte nicht lange. Der Bürgerkrieg zog sich über Jahre hin, viele Versuche einer Einigung scheiterten. Noch heute empfinden viele Angehörige der kurdischen Bevölkerung diese Zeit als schmerzhaft und beschämend. Die Geschichte des Frauenmarsches ist deshalb kaum im kollektiven Gedächtnis verankert. Die meisten der beteiligten Frauen sind inzwischen verstorben. Auch die beiden existierenden Fotos – eines vor dem Aufbruch in Sulaimani, eines bei der Ankunft am Parlament – gelten heute als verschollen.
Doch das Vermächtnis dieser mutigen Frauen lebt weiter. Ich frage Ashti Khan, wie sie heute darüber denkt:
„Ich bin traurig und bedaure es sehr, nicht selbst mitgegangen zu sein. Aber ich bin sehr stolz auf sie. Es ist eine wunderschöne Geschichte. Bitte schreiben Sie darüber – die Menschen heute müssen solche Geschichten hören, damit sie daraus lernen können.“
Also habe ich die Geschichte aufgeschrieben.
Die Erinnerung an den Krieg ist im irakischen Kurdistan allgegenwärtig. In Denkmälern und Museen, aber auch in den körperlichen und seelischen Wunden seiner Opfer. In der Trauer der Familien, die ihre Angehörigen verloren haben – und weiter verlieren. Sie ist eingeschrieben in die Landschaft: verbrannte Hügel, wo einst Wälder standen, Minen im Boden, neue Krater durch türkische und iranische Bomben. Die Erinnerung an den Krieg nährt Groll, Vergeltung und andauernden Konflikt.
Darum ist dies eine Geschichte für das Gedächtnis des Friedens – von unglaublich mutigen Frauen, die sich vom Schlachtfeld abwandten und ihr Leben riskierten, um andere zu schützen und ihrem Land eine Zukunft zu geben. Eine Geschichte von Menschen, die neue Wege suchten, weil die bisherigen nur zu Schmerz und Zerstörung geführt hatten. Die ihren Schmerz und ihre Wut nicht in Gewalt, sondern in einen kreativen Versuch verwandelten, den Kreislauf zu durchbrechen. Die nicht nur von Sulaimani nach Erbil gingen – durch feindliches Territorium –, sondern vom Erbe der Gewalt in die Hoffnung auf Frieden.
Quelle: https://cpt.org/2025/06/24/womens-march-for-peace