Besatzung, Tod und andere Privilegien. Westjordanland, Palästina.

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By Tameem Tamimi, Community Peacemaker Teams (CPT)

Das Foto ist eine künstlerische Darstellung von Tameem Tamimi zum Thema dieses Berichts

Tameem Tamimi, Mitglied von CPT-Palästina, denkt über Leben, Tod, Trauer und Überleben im Schatten der israelischen Besatzung sowie des Völkermords in Gaza nach.

Ich lebe im Westjordanland, also unter Besatzung.
Ich wohne mit meiner Familie in einem zweigeschossigen Haus. Auf den ersten Blick wirkt das wie ein normales Leben. An manchen Tagen fließt sogar Wasser aus der Leitung und ich kann duschen – ein kurzer Moment, der nach Alltag aussieht. Doch noch während ich das Wasser spüre, holt mich die Wirklichkeit ein. Ich lebe unter Besatzung.

Ich halte mich für einen freien Menschen und trotzdem ist die Besatzung allgegenwärtig. Mit den Jahren habe ich begriffen, dass Schmerz viele Abstufungen kennt und selbst das Leiden eine Hierarchie hat.

Und obwohl ich unter Besatzung lebe, kann ich immerhin noch sagen: Ich lebe.

Wenn ich in meinen sozialen Netzwerken stöbere, stoße ich auf Bilder, die nur eine halbe Stunde von hier entfernt aufgenommen wurden. Bilder von Kindern ohne Eltern, Eltern ohne Kinder. Ich sehe ein Kind, das im Dreck nach Spuren von Mehl scharrt und es in den Mund steckt, um seinen geschwächten Körper irgendwie zu füllen. Ein Mann, der jahrelang auf ein Kind gehofft hatte und nun seinen toten Sohn in einer Plastiktüte trägt. Eine Mutter, die die verstreuten Fleischfetzen in den Händen hält, die einst ihr Baby waren. Menschen, so zerbrechlich, so unschuldig, so schön – und doch auf ihre Knochen und Haut reduziert.

Es sind Bilder, die ich nicht begreifen kann, selbst unter dem „Privileg“ der Besatzung im Westjordanland nicht.

Ist dir schon einmal in den Sinn gekommen, dass selbst ein Leben unter Besatzung als Privileg gilt, wenn man es mit Gaza vergleicht?
Dass ich jeden Morgen mit Schuldgefühlen aufwache, nur weil ich die Nacht überlebt habe?
Während ein Mensch in meinem Alter in Gaza gestern Abend schlafen ging und heute Morgen nur noch als Hashtag im Internet existiert? Wenn er überhaupt das „Glück” hatte, in einem Massengrab unter Hunderten beigesetzt zu werden, die dasselbe Schicksal teilen. Eingewickelt in ein weißes Tuch, das das Blut seiner Unschuld aufsaugt.

Kein Abschied. Kein Grab. Kein Name.

Dann denke ich an mich selbst. Ich weine um den Tod meines Freundes Odeh.

Ich weine, weil ich ihn vermisse.
Ich weine, weil ich ihn seit Jahren nicht gesehen habe – und weil ich ihn nie wieder sehen werde. Odeh wurde vor einem Monat getötet, als er Umm al-Kheir verteidigte.
Er wurde kaltblütig ermordet – vor den Augen seiner Frau und Kinder.

Ich klage. Ich schreie. Ich heule. Ich brülle. Ich weine mir die Seele aus dem Leib.

Doch am Ende bleibt nur Schuld.
Ich schäme mich dafür, so viel für einen einzigen Menschen zu empfinden.
In Gaza ist niemand mehr da, der die Toten betrauert.
Niemand, der sie vermisst.
Niemand, der die Tränen der Trauernden trocknet.
Ich habe Odeh verloren, doch er hat seinen Platz im Paradies gefunden.

Vor zwei Monaten habe ich mein Studium abgeschlossen, und in Gaza gibt es keine Hochschulen mehr.
Ich zerbrach mir den Kopf über die Abschlussprüfungen, über Bewerbungen, das Manuskript für die Verteidigung meiner Arbeit, den Anzug, den ich tragen wollte, das Parfüm, das ich mir aussuchte, und sogar über das neue Paar Socken, das ich mir am Abend zuvor bereitgelegt hatte.

In einer anderen Welt wären solche Sorgen berechtigt. Heute erscheinen sie mir armselig.

Während ich mich um Anzug und Socken sorge, wurde in Gaza ein Junge beerdigt, ohne dass es überhaupt noch einen Körper gab, den man hätte einkleiden können. Ich beklage mich über meine sechs Stunden Schlaf, während ein Kind in Gaza die Nacht durchwacht und auf den toten Vater wartet. Ich ärgere mich über langsames WLAN, während Gaza in die Welt hinausschreit – und niemand hinhört. Ich frage mich, wie man sich an mich erinnern wird, während die Menschen in Gaza hoffen, in ihren Gräbern nicht vergessen zu werden. Ich mache mir Gedanken darüber, wie ich diese Sätze formulieren soll, während in Gaza die Namen der Toten auf Leichensäcken stehen.

„Frau mittleren Alters, dunkelbraunes Haar, ohne linken Arm, unter Trümmern in Khan Younis gefunden.“

Manchmal beklage ich mich über das deprimierende Leben im Westjordanland. Doch dann sehe ich eine Mutter in Gaza, der mitgeteilt wird, dass all ihre fünf Kinder durch eine einzige Rakete getötet wurden. Sie hält sich irgendwie aufrecht, kaum mehr als ein Schatten. Seit 22 Monaten wird jeder ihrer Schreie von einem Atemzug unterbrochen. Meine Sorgen wirken lächerlich. Sie sind beschämend. Ihr Dasein wird ausgelöscht und doch fühle ich mich in meiner Freiheit beschränkt.

Ich sitze in Cafés und Restaurants, in denen die Leute bei einem Kaffee über Politik flüstern.
In Gaza hingegen werden Cafés und Restaurants bombardiert.
In Gaza werden Krankenhäuser und Schulen bombardiert.
In Gaza werden Ambulanzen und Schutzräume bombardiert.
Wie kann ich es wagen, über meine Probleme zu klagen, während Gaza vor meinen Augen ausgelöscht wird?

Warum darf ich überleben?
Ich bin es leid, dass man mir sagt, ich solle „dankbar” sein, nicht in Gaza zu leben.
Ich bin nicht dankbar. Ich bin voller Wut. Ich bin außer mir.
Das Einzige, was uns noch bleibt, ist, überhaupt noch eine Mutter zu haben.
Ich möchte schreien, wenn ich höre, wie Menschen sagen, es sei „kompliziert“.
Nein, es ist nicht kompliziert.
Es ist Kolonialismus. Es ist Besatzung. Es ist ethnische Säuberung. Es ist Völkermord. Es ist Mord. Es ist absichtliches Schweigen und Zensur.

Manchmal sehe ich Bilder von Leichen und erkenne die Kleidung. Dinge, die auch ich trage.
Ihre Haut sieht aus wie meine.
Ihr Haar sieht aus wie meins.
Ihre Gesichtszüge gleichen meinen.
Ich kann nicht anders, als mir zu wünschen, es wäre ich. Mein Name sollte auf der Liste der vergessenen Märtyrer stehen. Es hätte meine Familie sein sollen.

Ich will, dass die Welt begreift: Meine Wut ist nicht abstrakt. Sie ist nicht kompliziert. Sie ist nicht relativ. Ich bin wütend, dass man „Nie wieder“ postet, während man Videos von zerfetzten Körpern aus Gaza wegwischt. Ich bin wütend, weil die Welt so tut, als sähe sie nichts. Ich bin wütend, weil ich so wenig tun kann. Am meisten schmerzt, dass das Überleben meiner Familie sich wie Verrat anfühlt. Am meisten schmerzt mich, dass meine Wut kein einziges Kind in die Arme seiner Mutter zurückbringen wird. Und ich weiß, dass auch dieser Text nichts ändern wird.

Aber vielleicht – nur vielleicht – gelingt es mir, dich etwas fühlen zu lassen. Dann hätte ich das Privileg der Besatzung nicht vergeudet.

Denn Überleben darf sich nicht schändlich anfühlen. Sicherheit darf sich nicht wie Verrat anfühlen. Freude darf sich nicht wie Diebstahl anfühlen. Und das Leben darf keine Schuld bedeuten. Denn das Einzige, was schwerer auf meiner Brust lastet als Palästinenser zu sein, ist, Palästinenser zu sein und noch am Leben zu sein, um dir davon zu erzählen.

Dieser Text von Tameem Tamimi von CPT-Palestine erschien zuerst in englischer Sprache, am 9. September 2025, auf der Netzseite von Community Peacemaker Teams (CPT), es ist der Versuch einer deutscher Übersetzung. Das Original findet sich hier: https://cpt.org/2025/09/09/occupation-death-and-other-privileges