Trotz allem halten die Menschen in Masafer Yatta an ihrer Hoffnung fest: Geschichten aus bedrohten Dörfern
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Auf der Netzseite der Community Peacemaker Teams (CPT) veröffentlichte das Team CPT-Palestine, B.O.S., am 4. Juli 2024 einen Artikel über einen Besuch in Khirbet Khallet ad-Dabe, einem kleinen Dorf der Dorfgruppe Masafer Yatta in den südlichen Hebron-Hügeln des Westjordanlands, Palästina.

In Masafer Yatta erzählen die Wege und uralten Steine der Dörfer Geschichten von Leid und Widerstandskraft
Holding on to hope in Masafer Yatta: stories from villages under threat
In den Dörfern von Masafer Yatta trägt jede verwinkelte Straße und jeder staubige Pfad eine Geschichte, eingraviert in die alten Steine und Höhlen. In jedem Haus, jeder Höhle und jedem Olivenhain lebt eine Erzählung von Beharrlichkeit, Können und unbezähmbarer menschlicher Stärke. Wenn ich mich durch diese Dörfer bewege – Orte, von denen viele Menschen auf der Welt nie gehört haben –, bindet sich mein Herz an die Gemeinschaft und ihre Geschichten. Meine Worte erscheinen winzig gegenüber dem, was die Menschen hier ertragen müssen. Ich frage mich oft: Was kann man jenen sagen, deren Dörfer zerstört wurden, deren Häuser zu Trümmern geworden sind, deren Träume täglich von Mächten bedroht werden, die sie nicht kontrollieren können?
Als wir uns dem kleinen Dorf Khirbet Khallet ad-Dabe näherten, bot sich mir ein Anblick, der mir schwer aufs Herz drückte. Unter dem einzigen verbliebenen Baum saß eine alte Mutter und blickte schweigend auf die Ruinen dessen, was einst ihr Zuhause war. Obwohl ihr Haus nun zerstört ist, weigert sie sich jeden Tag aufs Neue, den Ort zu verlassen, an dem sie ihr Leben aufgebaut hat. Ihre Standhaftigkeit ist zugleich Protest und Gebet: die Weigerung, ihre Geschichte abbrechen zu lassen.
Die Geschichte von Khallet ad-Dabe’ ist nur eine von vielen in Masafer Yatta, einem Verbund palästinensischer Dörfer südlich von Hebron. Hier sehen sich die Bewohner:innen einer systematischen und anhaltenden Vertreibungskampagne ausgesetzt. Jede Stunde scheint eine neue Prüfung mit sich zu bringen: Hausabrisse, Landenteignungen, Verhaftungen, Drohungen durch jüdische Siedler:innen und Einschränkungen durch das Israelische Militär. Das Ziel wirkt klar: Das tägliche Leben soll derart unerträglich werden, daß Familien glauben, sie hätten keine Wahl, als ihr angestammtes Land zu verlassen.
Der Alltag in Masafer Yatta ist ein empfindliches Gleichgewicht zwischen Angst und Entschlossenheit. Morgens treiben Siedler:innen oft ihre Schafe auf palästinensische Felder, zerstören Saaten und rauben Familien die Lebensgrundlage. Nachts hält die Gefahr von Überfällen durch Siedler:innen oder Militäreinheiten die Familien wach; ihre Ruhe wird von Unsicherheit heimgesucht. Die Kinder wachsen damit auf, genau auf nähernde Schritte zu achten, während ihre Eltern sich still Sorgen machen, was der nächste Tag bringen mag.
Die Strategien der Besatzung sind nicht neu, doch ihre Folgen werden immer verheerender. Große Teile von Masafer Yatta hat das israelische Militär als sogenanntes „Schießübungsgelände“ – ein militärisches Sperrgebiet für Übungen mit scharfer Munition – ausgewiesen. Diese Einstufung erlaubt der Armee, in Gebieten zu trainieren, in denen Familien seit Generationen leben. Sie dient kaum einem echten Sicherheitsbedürfnis, sondern zielt darauf ab, die palästinensische Bevölkerung zu vertreiben. Zugleich wachsen israelische Siedlungen unaufhörlich weiter, greifen Meter um Meter in palästinensisches Land über und erhalten dafür Straßen und Infrastruktur, die Palästinenser:innen selbst nicht benutzen dürfen.
Vor kurzem rissen die Besatzungskräfte das gesamte Dorf Umm al-Dabaa ab. Häuser, Viehunterstände und sogar Wassertanks wurden zerstört. Familien, die dort seit Jahrzehnten gelebt hatten, blieben obdachlos zurück und mußten provisorische Zelte errichten, die bald wieder zerstört wurden. Frauen. Frauen, Kinder und Alte leben heute in Höhlen – Räume, die nie als dauerhafte Wohnungen gedacht waren. Diese feuchten, schlecht belüfteten Höhlen begünstigen Atemwegserkrankungen und weitere Gesundheitsrisiken. Dennoch sind sie die einzige Zuflucht, die ihnen geblieben ist.
Diese Ungerechtigkeit mitanzusehen ist schwer. Während die Siedler:innen moderne Häuser errichten und unter dem Schutz von Soldat:innen leben, erhalten die rechtmäßigen Eigentümer:innen des Landes keine Baugenehmigungen, sehen ihre Gebäude abgerissen und müssen vor Gericht um das bloße Recht kämpfen, auf ihrem Land zu bleiben. Für Siedler:innen werden Straßen asphaltiert, während Palästinenser:innen auf holprigen Wegen fahren, die oft von Kontrollposten blockiert oder von Militärfahrzeugen zerstört sind und voller Angst und Gefahren stecken.
Trotz aller Härten geben die Menschen in Masafer Yatta nicht auf. Ihre Verbindung zum Land ist nicht nur geographisch; sie gründet in Geschichte, Erinnerung und Identität. Familien pflegen Olivenhaine, die Großeltern und Urgroßeltern einst pflanzten. Kinder lernen die Namen der Hügel und Täler als Teil ihrer Identität. Wegzugehen ist undenkbar, denn das würde bedeuten, einen Teil von sich selbst aufzugeben.
Wenn ich mit Dorfbewohner:innen spreche, höre ich nicht nur von Schmerz, sondern auch von schöpferischer Kraft. Eine Frau sitzt im dämmrigen Höhlenlicht und stickt feine, traditionelle Motive. Ein Bauer, dem man das Feld verbrannte, setzt behutsam neue Setzlinge in die Erde. Zwischen den Trümmern zerstörter Häuser rennen Kinder umher; ihr Lachen trotzt der Zerstörung. Selbst unter dem Druck der Besatzung findet das Leben neue Triebe.
Wenn ich über das Gesehene und Gehörte nachdenke, wird mir klar, daß in der Welt Stärke meist mit Macht verwechselt wird. Doch hier in Masafer Yatta zeigt sich wahre Stärke in leiser, tiefgreifender Form: im Mut zu bleiben, Zerstörtes wieder aufzubauen, ein Land zu lieben, das andere ihnen entreißen wollen. Es ist die Entscheidung, jeden Morgen aufzustehen und trotz der Angst und des Schmerzes weiterzuleben.
Der Kampf von Masafer Yatta ist nicht nur eine lokale Geschichte; er gehört zu einer größeren menschlichen Erzählung über das Recht, dazuzugehören, würdevoll zu leben und die eigene Geschichte selbst zu erzählen. Solange Menschen bereit sind, unter dem letzten Baum ihres Dorfes zu sitzen und nicht zu weichen, wird diese Geschichte weitergeschrieben – nicht nur in Worten, sondern in den Herzen derer, die Zeug:innen werden.
Wer durch das Gebiet von Yatta reist, begegnet in jedem Dorf einer eigenen Geschichte, und die Menschen bleiben, verwurzelt wie die uralten Olivenbäume: standhaft, verwundet und schön in ihrer Widerständigkeit.
B.O.S., 4. Juli 25
Quelle: https://cpt.org/2025/07/04/holding-on-to-hope-in-masafer-yatta-stories-from-villages-under-threat