Israels Staatsregierung und das Jüdische

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Die ethische Weisung zur Nächstenliebe wird in Europa oder Nordamerika oft vorschnell einzig mit dem Wirken Jesu in Verbindung gebracht. Tatsächlich entstammt sie keineswegs einem Jesuanischen Neuanfang. Vielmehr ist sie zentrales Element jüdischer Lebenspraxis, das bereits in der Hebräischen Bibel vielstimmig bezeugt wird. Jesus hat diese Weisung nicht erfunden, sondern als Ausdruck seines Glaubens innerhalb des Jüdischen hervorgehoben – wie vor ihm zahlreiche andere Lehrende und Gelehrte. Dennoch hält sich, gerade in kirchlich geprägten Kontexten, das Narrativ einer exklusiv christlichen Liebesethik zäh. Oft wird behauptet, die jüdische Überlieferung kenne Mitmenschlichkeit nur innerhalb der eigenen Gemeinschaft und sei Fremden gegenüber gleichgültig oder gar feindlich eingestellt. Ein solches Verständnis ist nicht nur exegetisch unhaltbar, sondern auch historisch durchzogen von antijüdischen Polemiken.

Die Tora verweist an zahlreichen Stellen auf eine Ethik, die nicht an ethnische Zugehörigkeit gebunden ist. Das Gebot, den „Nächsten zu lieben wie sich selbst“ (Levitikus 19,18), steht eingebettet in einen umfassenden Zusammenhang sozialer Gerechtigkeit, Schutz der Bedürftigen und Wahrhaftigkeit im zwischenmenschlichen Umgang. Zwar lässt sich das hebräische „rea” – der „Nächste” – in einem engen Sinne auf den eigenen Mitmenschen innerhalb der Gemeinschaft beziehen. Doch dieselbe Tora kennt auch eine differenzierte Ethik des Umgangs mit dem „Fremden“ (ger), der innerhalb der Gesellschaft Israels lebt. In Levitikus 19,33–34 heißt es unmissverständlich: „Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken. Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst.“ Die Begründung ist von eindrücklicher ethischer Tiefe: „Denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen im Land Ägypten.“

Aus dieser historischen Erfahrung entsteht eine Erinnerungsethik, die nicht auf Abgrenzung zielt, sondern auf Empathie und Verantwortung. Der Gott, von dem die Tora spricht, zeigt sich selbst als Anwalt der Bedürftigen, der Fremden und duldet keine Verelendung innerhalb der Gesellschaft. „Es soll gar kein Armer unter euch sein“, heißt es im Deuteronomium (15,4). Der soziale Anspruch dient nicht der autoritären Kontrolle, sondern der Lebensermöglichung: „Du sollst leben, und dein Bruder neben dir auch“ (vgl. Deuteronomium 6,24).

Diese Haltung durchzieht nicht nur den biblischen Textkorpus, sondern findet in den rabbinischen Schriften eindrucksvolle Vertiefung. Der Mensch gilt als Geschöpf im Bilde Gottes (b’tzelem Elokim, Genesis 1,26), diese Vorstellung bildet die Grundlage für eine Würde, die allen Menschen – unabhängig ihrer Herkunft oder ihrem Glaubensbekenntnis – zukommt. In der rabbinischen Literatur heißt es, dass „die Gerechten aller Völker einen Anteil an der kommenden Welt haben” (Tosefta Sanhedrin 13:1). Diese Aussage widerspricht jeder Idee einer exklusiven Heilszugehörigkeit und betont stattdessen eine Ethik, die sich über kulturelle und religiöse Grenzen hinweg erstreckt.

Das Jüdische – zumindest in seiner klassischen Ausprägung – verweist nicht auf ethnische Abgeschlossenheit oder staatliche Herrschaftsansprüche, sondern auf eine Ethik der Verantwortung. Begriffe wie chesed (liebende Güte), tzedakah (Gerechtigkeit) oder tikkun olam (Weltverantwortung) stehen für ein Denken, das nicht in Identitätsrhetorik erstarrt, sondern das Gemeinsame in der Menschheit sucht. Besonders der Begriff Schalom – oft verkürzt als „Frieden“ übersetzt – meint mehr: Er bezeichnet einen Zustand des inneren und äußeren Gleichgewichts, des Rechts, der Heilung und der Gerechtigkeit. Schalom ist Ausdruck einer Ordnung, in der Leben gelingt.

In den Pirkei Avot (Sprüche der Vorväter) heißt es: „Die Welt steht auf drei Säulen: auf der Tora, auf dem Dienst am Nächsten und auf der Güte.“ Und weiter: „Die Welt ruht auf Gerechtigkeit, Wahrheit und Schalom.“ Diese Aussagen sind keine idealistischen Leerformeln, sondern Handlungsprinzipien. Die Tora wurde, wie es im Talmud heißt, „um des Schalom willen“ gegeben. Es geht nicht um die Behauptung von Macht, sondern um die Ermöglichung von Versöhnung, von gerechtem Zusammenleben, von Heilung und Integrität.

Wer das Jüdische auf politische Systeme oder ideologische Konstrukte reduziert, verkennt seinen geistigen Gehalt. Was als jüdisch erscheint, ist in Wahrheit ein Ruf zur universellen Ethik, geprägt von Erinnerung, getragen von Verantwortung, ausgerichtet auf Gerechtigkeit und vorbehaltloses Eintreten für die Würde jedes Menschen.

(Es versteht sich von selbst, dass Jüdisch weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart eine geschlossene Einheit darstellt, sondern in religiöser, kultureller, sprachlicher und ethnischer Hinsicht vielfältig ausgeprägt ist. Aber es gibt nur eine Menschheit, eine Tora, ein Gott*)

F. Müller