Vielfalt und Unterwegssein: Reich Gottes ist Migrationsgemeinschaft

Erstellt am:

Von Alexander Müller

Auch wenn der vorliegende Text zum Reich Gottes nur als Fragment zu verstehen ist, macht er ungewollt deutlich, in welcher Diskrepanz viele Gemeinden und Kirchen zu dem stehen, was das Reich Gottes im Leben und Handeln meint. Diese Kluft mag mit erklären, weshalb kirchliche Gemeinschaften zunehmend an Bedeutung verlieren und schrumpfen: Weil sie nicht das verkörpern, wozu sie berufen sind, und weil sie schweigen, wo sie ihre Stimme erheben müssen.

Reich Gottes auch Gottes Reich

Reich Gottes bedeutet Gemeinschaft – und diese ist stets eine Migrationsgemeinschaft. Ihr Ursprung liegt nicht im Besitz von Land oder Macht, sondern in der Bewegung, die entsteht, wenn Menschen ihr Leben an Gott ausrichten. Sesshaftigkeit im Sinne endgültiger Sicherheit widerspricht diesem Wesen. Wer das „sola fide” missversteht und Glauben als Besitz, als abgesicherte Gewissheit oder passives Verharren behandelt, richtet sich häuslich ein und verliert die Dynamik des Unterwegsseins.

Als Bürgerinnen und Bürger des Reiches Gottes treten Menschen bewusst in eine Zugehörigkeit ein, die nicht an irdische Grenzen gebunden ist. Diese Entscheidung geschieht in Freiheit und Mündigkeit. Doch sie führt nicht in ein statisches Gebilde, sondern in eine ewige Migration. Das bedeutet: Glaube ist kein Ort des Verharrens, sondern ein Weg, der immer weiterführt.

Glaube im Reich Gottes bedeutet nicht, Wahrheiten zu besitzen oder an unverrückbaren Formeln festzuhalten. Er bedeutet Handeln, Aufbrechen und Vertrauen wagen. Glaube ist ein Unterwegssein ohne endgültige Sicherheiten, ein Suchen und Fragen, ein Zweifeln – und gerade darin ein Offenbleiben für das, was trägt. Jesus verstand Glauben nicht als innere Zustimmung zu Lehren, sondern als Ruf in die Bewegung. Menschen sollen loslassen, alte Bindungen zurückstellen und sich dem Neuen öffnen. In dieser Tradition haben die gewaltfreien Täufer:innen im 16. Jahrhundert betont, dass Glaube eine mündige Entscheidung und konkrete Lebenspraxis ist. „Glaube“ bedeutet Treue, Vertrauen und Beziehung – Lebensformen, die sich in unterschiedlichen Ausdrucksweisen entfalten.

Dieses Unterwegssein schließt nicht aus, mitten in der Welt zu wohnen. Im Gegenteil: Die Mitglieder leben mitten unter anderen, ist mit ihnen verbunden und steht doch in kritischer Distanz zu den gängigen Maßstäben. Denn die Maßstäbe des Reiches Gottes weichen ab: Gewaltverzicht anstelle von Vergeltung, Teilen anstelle von Horten und Würde für die Schwachen anstelle von Übervorteilung. So entsteht eine Lebensweise, die sich nicht an den herrschenden Ordnungen, sondern an einer tieferen Gerechtigkeit ausrichtet.

Im Verlauf der Geschichte hat sich gezeigt, dass Erfahrungen von Fremdheit und Aufbruch nicht zum Stillstand, sondern zur Erneuerung führen. In Zeiten, in denen alte Sicherheiten zerbrochen sind, sind neue Formen des Unterwegsseins, neue Weisen des Zusammenlebens und tiefere Einsichten in Gottes Gegenwart entstanden. Das Leben in der Fremde erwies sich als Schule der Identität. Genau in diesem Spannungsfeld wurde deutlich: Gott bindet sich nicht an Tempel, Nation oder Monokultur, sondern entfaltet seine Gegenwart dort, wo Menschen in Bewegung bleiben, sich Ausgrenzung und Nationalismus entgegenstellen.

Darum ist im Reich Gottes kein Platz für einengende Vorstellungen, die Vielfalt beschneiden wollen. Unterschiedliche Lebensformen und Beziehungsnormalitäten sind kein Grund zur Sorge, sondern ein Reichtum. Sie eröffnen Räume für eine umfassendere Gestalt des Glaubens, die sich nicht auf eine einzige Ausdrucksform reduzieren lässt. Wer Vielfalt verengt, verliert den Blick für das Wesen des Reiches selbst. Es ist kein exklusiver Club, sondern eine offene Gemeinschaft, die in der Verschiedenheit ihrer Glieder ihre Kraft findet.

Gottes Reich ist eine Migrationsgemeinschaft: immer unterwegs, nie abgeschlossen, offen für neue Einsichten, lernbereit durch Begegnungen mit Fremden und geprägt von einer Vielfalt, die nicht nivelliert wird, sondern von einer gemeinsamen Hoffnung getragen ist. Gott hat keine anderen Hände als die seiner Bürgerinnen und Bürger. Durch sie nimmt Gestalt an, was über ihre eigenen Ordnungen hinausweist: ein Zusammenleben, das aus der Bewegung lebt und gerade darin auf Dauer angelegt ist.