Wie lässt sich „Nachfolge Jesu“ in einer säkularen Welt erklären?

Erstellt am:

Jesu Nachfolgen, Nachfolge Jesu.
Jesus Nachfolgen, wie lässt sich „Nachfolge Jesu“ in einer säkularen Welt erklären?

Ein unfertiger Text

Der Begriff der „Nachfolge Jesu“ bedarf heutzutage einer Erklärung, gerade weil er einst so klar schien. Auch wenn dies nur ein Versuch ist und unvollständig bleibt. In den ersten Jahrhunderten der Jesusbewegung war Nachfolge keine abstrakte Idee, sondern eine gelebte Konsequenz: Wer sich auf den Weg Jesu einließ, bewegte sich auf ethisch-humanistischen Pfad, stellte sich gegen die bestehenden Machtverhältnisse in der Gesellschaft, nahm Ausgrenzung, Armut und Verfolgung in Kauf. Nachfolge bedeutete: sich sichtbar in die gewaltfreie Spur Jesu zu begeben, solidarisch mit den Armen zu leben, seine Feinde lieben und der herrschenden Gewaltlogik die Stirn zu bieten. Nachfolge ist immer auch gelebter gewaltfreier sozialer Widerstand.

Aufmerksamen Leser:innen wird es nicht entgangen sein. Nachfolge bedeutet nicht, Jesus blind zu folgen – wie ein Dackel, der seinem Frauchen willenlos hinterherdackelt. Es geht nicht um blinde Gefolgschaft, sondern darum, mitzugehen, neben Jesu herzugehen, mit ihm auf dem Weg sein. Wer sich auf diesen Weg einlässt, bleibt nicht stehen, sondern setzt sich mit Fragen auseinander, bildet sich weiter und sucht nach Wegen, wie eine Beziehung zu und mit Gott* lebendig und alltagstauglich gestaltet werden kann. Das Bild der Nachfolge steht somit auch für eine Bildungsgemeinschaft – eine universitäre Weggemeinschaft des Erkennens und Verstehens. Nachfolge heißt, sich berühren lassen, Verantwortung übernehmen und herauszufinden, was „Leben in Fülle“ heute bedeuten kann – im Denken, im Handeln und im gemeinsamen Unterwegssein.

Mit der konstantinischen Wende, also dem Übergang von einer verfolgten Bewegung zu einer vom Staat getragenen Religion, begann ein Prozess der Aneignung: Die römische Macht übernahm Elemente der Jesusbewegung und formte sie nach ihren politischen Interessen um. Aus gelebter Nachfolge entstand ein institutionelles System. Der Begriff „Christentum“ bezeichnet diese enge Verbindung von Staat und Kirche mit festen Dogmen, hierarchischen Strukturen und dem Ausschluss alternativer Glaubens- und Lebensformen. Damit geriet in den Hintergrund, was für Jesus selbst entscheidend war: Sein Leben und seine Botschaft waren kein Hinweis auf ihn selbst, sondern ein Weg in die Beziehung zu Gott*. Diese Beziehung war jedoch nie nur privat gedacht, sondern lebte von Gemeinschaft, vom Teilen und Miteinander. Nachfolge bedeutet deshalb nicht die Zugehörigkeit zu einer hierarchischen Institution, sondern die gemeinsame Orientierung an seinem Weg: Vertrauen zu wagen, Gerechtigkeit zu üben und in Liebe verbunden zu handeln.
Menschen, die versuchten, gegen den Strom des kirchlichen Mainstreams, also des Christentums, zu leben, wurden verfolgt oder ausgelöscht. Sei es in asketischen Gemeinschaften, in friedensorientierten Auslegungen oder in oppositionellen Bewegungen, die den Geist der ursprünglichen Jesusnachfolge lebendig zu halten suchten, wie Waldensern. Auch gewaltfrei orientierte Täufer:innen der Reformationszeit stehen in dieser Tradition. Sie wagten einen Neuanfang: keine Reform im Sinne einer reformierten Staatskirche, sondern eine Restitution, eine Erneuerung im Geist gelebter Nachfolge.

In einer heute weitgehend säkularen Gesellschaft, in der die Jesusbewegung keine Selbstverständlichkeit mehr ist und der interreligiöse sowie weltanschauliche Dialog an Bedeutung gewinnt, stellt sich die Frage neu: Was meinen wir, wenn wir von der Nachfolge Jesu sprechen? Kann man es erklären? Und kann dieses Konzept auch dort sinnvoll sein, wo kein Glaube im klassischen Sinne vorausgesetzt wird? Ohne religiöse Engführung, aber mit der Ernsthaftigkeit, die Nachfolge immer schon verlangt hat.
Es wird hier nicht näher darauf eingegangen, dass Nachfolge nicht selten von evangelicalen Strömungen unterwandert wird – sei es durch eine Vereinnahmung im Sinne exklusiver Wahrheitsansprüche oder durch eine Vergeistlichung, die ihre sozialkritische und emanzipatorische Dimension ins Gegenteil verdreht.

Nachfolge bedeutet nicht, Jesus zu vergötzen. Es geht auch nicht darum, ihn in einem spirituellen Sinne zu imitieren oder sich ihm in kultischer Frömmigkeit zu nähern. Vielmehr geht es darum, in seinem Geiste zu handeln: so zu glauben, wie er geglaubt hat – voller Vertrauen und ohne Zwang –, so zu leben, wie er gelebt hat – offen für Unterbrechungen, sensibel für Leid und unbeirrbar in der Hoffnung. In seinem Handeln zeigt sich, was mit Gott* gemeint ist: kein ferner Herrscher, sondern eine durch das Leben hindurch erfahrbare Kraft der Gerechtigkeit, der Zuwendung und der Verwandlung. Liebe.
Der Begriff „Gott*“ steht hier nicht für ein festgelegtes Konzept, sondern für eine offene Wirklichkeit, die sich durch menschliches Handeln erschließt. Jesus spricht nicht viel über Gott* – er verkörpert, wie Gottes Wille auf Erden aussehen könnte: wo Menschen Wege finden, mit Leid und Verletzungen umzugehen, wo alle satt werden, wo Frieden den Hass überwindet und wo Schuld nicht das letzte Wort hat.
„Seid barmherzig zu euren Feinden“ – Feindesliebe – sagt Jesus. Das ist kein poetisches Ideal, sondern eine politische Zumutung. Es unterläuft den Reflex der Gewalt und stellt die Logik der Vergeltung radikal infrage. Wer diesen Weg geht – sei es aus religiöser Überzeugung oder aus humanitärer Verantwortung heraus –, der steht in der Nachfolge Jesu.

Martin Luther King Jr., der sich explizit auf Jesus bezog, sah darin den Kern des gewaltfreien Widerstands. Doch auch Mahatma Gandhi, der kein Christ war, nannte die Bergpredigt das „größte Dokument der Menschheit“. Ihre Forderung nach Gewaltlosigkeit, Wahrhaftigkeit und Feindesliebe bleibt auch in säkularen Kontexten gültig – nicht als Gesetz, sondern als Angebot.

Auch der Schweizer Pazifist und „Pilger der Friedensbotschaft“ Daetwyler Max orientierte sein Leben als Nachfolge Jesu. In Auslegung der Bergpredigt verweigerte er den Militärdienst, lebte bewußt einfach und trat öffentlich für Gewaltlosigkeit und Versöhnung ein. Seine Haltung war nicht Ausdruck politischen Kalküls, sondern entsprang einer tiefen religiösen Überzeugung, das Evangelium sei keine theoretische Konstruktion, sondern eine gelebte Wirklichkeit. Inmitten der politischen Spannungen des 20. Jahrhunderts erinnerte Daetwyler daran, dass christliche Nachfolge stets auch ein öffentliches, manchmal sogar unbequemes Zeugnis bedeutet, das von einer Hoffnung getragen ist, die nicht aus dieser Welt stammt und dennoch in ihr wirksam wird.

Bertha von Suttner, die erste Frau, die den Friedensnobelpreis erhielt, darf nicht ungenannt bleiben. Sie argumentierte nicht aus einer religiösen Tradition heraus, sondern aus humanistischer und politischer Überzeugung. Ihr entschiedener Einsatz gegen Aufrüstung und Krieg ist getragen von der Gewissheit, dass Gewalt immer neue Gewalt hervorbringt. In ihrem Engagement wird sichtbar, wie Nachfolge Jesu auch dort eine Gestalt gewinnt, wo Menschen aus humanistischer Verantwortung heraus für Frieden und Versöhnung eintreten.

Nachfolge Jesu bedeutet nicht Missionsdrang, sondern Engagement. Es bedeutet, sich einzumischen, wo Unrecht herrscht, ohne dabei selbst ungerecht zu handeln. Es bedeutet, sich für den Frieden einzusetzen, ohne sich der Logik der Macht anzupassen. Und es bedeutet, der Versuchung zur Selbstgerechtigkeit zu widerstehen – gerade im Namen der Gerechtigkeit, welche sich gewaltfrei in Liebe ausdrückt.

Jesus glaubt an Menschen, er glaubt an uns. Das ist keine sentimentale Aussage, sondern eine theologisch-politische. Er traut Menschen zu, frei zu handeln, Verantwortung zu übernehmen und Gutes zu tun – selbst unter widrigen Umständen. Er kontrolliert nicht, sondern delegiert. Er bindet Menschen ein, ermutigt sie und heilt durch Zuwendung. Dieses Vertrauen ist Teil seines Glaubens. Jesus glaubt nicht nur an Gott*, er glaubt auch an die Möglichkeit, dass Menschen den Willen Gottes* leben – nicht perfekt, aber ehrlich; nicht fehlerlos, aber mit offenem Herzen.

Der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer, der sich dem Nationalsozialismus widersetzte, schrieb: „Nachfolge ist Bindung an die Person Jesu Christi.“ Doch diese Bindung meint keine religiöse Identifikation, sondern ein existentielles Mitgehen: den Weg mitzugehen, den Jesus ging – bis dorthin, wo es wehtut, wo es nicht mehr nützt, sondern kostet.

In einer pluralen und säkular geprägten Welt wirkt die Rede von Nachfolge zunächst befremdlich. Doch bei genauerem Hinsehen zeigt sich: Viele Menschen leben „nachfolgend“, ohne den Begriff zu kennen oder sich auf Jesus zu berufen. Wer in einer von Unterdrückung und Krieg geprägten Welt nach Versöhnung statt Rache strebt, wer sich für Gerechtigkeit, Gewaltfreiheit, Frieden und Umweltschutz einsetzt, folgt einer Logik, die mit der Jesu verwandt ist.

Nachfolge ist sowohl ein persönlicher als auch ein gemeinschaftlicher Weg. Sie umfasst nicht nur individuelles Handeln, sondern auch das gemeinsame Engagement von Gruppen, Bewegungen und der Kirche als Ganzes. Sie ist eine Einladung an die ganze Menschheit. Der Ruf zur Nachfolge fordert dazu heraus, sich an die Seite derer zu stellen, die ausgegrenzt, entrechtet oder übersehen werden, und sich bedingungslos für die Achtung und Durchsetzung von Grund- und Menschenrechten einzusetzen. Er verlangt, sozialen Spaltungen, struktureller Ungerechtigkeit und ökologischer Zerstörung nicht auszuweichen. Sowohl Kirche als auch Gesellschaft sind gleichermaßen gefordert, nicht in Neutralität zu verharren, sondern Verantwortung zu übernehmen, indem sie Partei ergreifen, kreativ nach Lösungen suchen und Wege der Überwindung gestalten.

Die Herausforderung besteht darin, dies nicht zu mystifizieren, sondern sichtbar zu machen. Nachfolge ist keine religiöse Spezialdisziplin, sondern eine humanistisch-ethisch-politische Praxis. Sie fragt nicht nach dem „richtigen Glauben“, sondern danach, wie wir leben. Glauben ist immer auch gelebte Gemeinschaft, gesunde Beziehungen. Soziale Verteidigung.


Vielleicht lässt sich Nachfolge Christi gar nicht erklären, sondern nur leben, wie es Hans Denck (1526) ausdrückte: Niemand kann Christus wahrlich erkennen, es sei denn, dass er ihm nachfolge mit dem Leben. Und niemand kann, ihm nachfolgen, denn soviel er ihn zuvor erkennt. … und manche, die sich nicht als Christ:innen sehen, verwirklichen in ihrem Leben mehr von Nachfolge, als es die meisten Christ:innen tun, obwohl sie es doch für sich beanspruchen.

Jacob Simeon Barth

Jesus folgen, Jüngerschaft, Jünger:innenschaft, following Jesus, discipleship, discipulat, suivre Jésus oder Schule Jesu. Unterwegssein, Jesu Beispiel, Jesus nachfolgen Friedenstheologie thelogisch auf Gerechtigkeit und Gewaltfreiheit ausgerichtet